Plädoyer für den Erhalt von Heimat
Plädoyer für den Erhalt von Heimat
Ich war 5 Jahre alt als ich 1940 den ersten intensiven Kontakt zu Kirchendingen bekam. Meine Mutter fuhr mit mir nach Lüneburg, um die dort vorhandenen Kirchen zu sehen, zu begehen, zu erfühlen bevor sie eventuell ein Opfer der beginnenden Bombenangriffe auf deutsche Städte würden. Die frühen Eindrücke haben mich zeitlebens geprägt.
Meine Mutter stand kirchlichen Dingen und christlichen Glaubensfragen kritisch und distanziert gegenüber, wurde aber nicht müde, immer wieder zu betonen, um wieviel ärmer unsere Städte wären, wenn sie nicht die herausragenden Schätze christlicher Baukultur besäßen.
Einen zweiten intensiven Kontakt zu Kirche und Religion bekam ich 10 Jahre später. Meine Eltern hatten mich als Kleinkind nicht taufen lassen, was meinem Großvater, einem Landpfarrer bei Lüchow im Wendland großen Verdruß bereitete. „Gottgläubig“, aber nicht einer Konfession angehörig, wuchs ich heran. Der Neuenhäusener Pastor Voigt, für mich eine charismatische Persönlichkeit, überzeugte mich mit seinen von großer Nächstenliebe getragenen Berichten aus den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel so stark, dass ich mich von ihm konfirmieren und einen Tag vorher taufen ließ.
Nicht ein Bild und auch nicht die Schriften sind Auslöser zu dieser Entscheidung gewesen, sondern das lebendige Vor – Bild eines überzeugenden Christenmenschen.
Ich möchte nicht verschweigen, dass die Schwester meiner Mutter, die liebe Tante Julchen, mir vor ihrem Tode beichtete, dass das ungetaufte Erdenleben des kleinen Neugeborenen für den Großvater schwer zu ertragen war. Deswegen hätte man bei einem Malausflug meiner Mutter, mich geschnappt und heimlich getauft. Pastor Voigt war also ein „Wiedertäufer“.
Beide Begebenheiten, die frühe Prägung beim Ausflug des Kindes in die kirchenreiche, reiche Bürgerstadt Lüneburg und die zu Taufe und Konfirmation führende Begegnung mit dem Pastor Voigt in der Residenzstadt Celle hätten mich dazu gereizt, Betrachtungen zu 2 aktuellen Jubiläen in der Celler Kirchengeschichte anzustellen:
Zum hundertsten Geburtstag des Stadtkirchenturms, der bis vor kurzem mehr „Christo“ - Turm als „Christi“ - Turm war und zum vierhundertjährigem Stiftungsjubiläum des in voller Pracht und Größe vor ihnen stehenden Altars. Dabei hätte zum einen die Bedeutung eines Turmes und die Jahrhunderte dauernde Turmlosigkeit der Celler Stadtkirche eine Rolle spielen müssen und zum anderen wäre eine Diskussion nicht ohne Spannung gewesen mit der Frage, ob denn die Bildwelten des Altars zum wahren Glauben führen können oder nur das Wort der Heiligen Schrift dazu befähigt ist oder ob nicht vielmehr das aufrecht gelebte Leben eines Christen beispielgebend wirken kann.
Aber aus aktuellem Anlass brennt mir seit Wochen eine andere Thematik unter den Nägeln, die beinahe inflationär selbst in überregionalen Medien auftaucht.
Dabei geht es um die Sanierung oder den Abriss der letzten noch im Original erhaltenen Zeilen der Siedlung „Blumläger Feld“ von Otto Haesler in Celle.
Von der Stadt Celle mit Wohnungen für das Existenzminimum 1931 errrichtet, machte sie schon kurz nach der Fertigstellung Furore wegen ihrer radikalen Minimalisierung der Wohnräume, aber auch wegen ihrer innovativen Tendenzen im frühen, sozialen Massenwohnungsbau.
Es sind Bauten, die äußerlich nicht von christlichem Glauben künden, deren innerer Gehalt aber in vielfältiger Weise von „Glaube, Liebe und Hoffnung“ spricht.
Fern jeder Pracht und bar jeden Schmucks sind sie in einer großen Wohnungsnotsituation nach dem 1. Weltkrieg zur Zeit der Weltwirtschaftskrise entstanden. Sie haben vielen Menschen eine sehr billige Wohnung gegeben, die ihnen bald zur Heimat geworden ist.
Ich zitiere aus einem Brief Jeremias an die gefangenen Juden in Babylon: Jeremia 29, Vers 5 und 7
„Bauet Häuser, darin ihr wohnen mögt,
pflanzet Gärten, daraus ihr die Früchte essen mögt.
Suchet der Stadt Bestes,
dass wenn´s ihr wohl gehet,
so geht’s euch auch wohl.“
Dieses Bibelwort ist passgenau zugeschnitten auf die Erbauer des Blumläger Feldes: die Stadt Celle und den Architekten Otto Haesler.
Nach dem bundesweit mit heftigen Protesten begleiteten Abriss großer Teile der Siedlung am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts, ist sie jetzt wieder in den Brennpunkt des Interesses gerückt, weil ein workshop mit Studenten aus Utrecht, Braunschweig und Hildesheim hier in Celle vor Ort Ideen entwickeln sollte, wie man den verbliebenen Rest mit 52 Wohnungen bei einer notwendigen Sanierung attraktiver gestalten könne, denn der Eigner, die Celler Wohnungsbaugesellschaft WBG, zieht aus für sie verständlichen Gründen sogar einen Abriss in Erwägung, falls Schäden an tragenden Bauteilen, wie zum Beispiel durch Korrosion am Stahlgerüst, auftauchen sollten.
Beim denkmalgeschützten Fachwerkhaus in der Altstadt würde eine verrottete Schwelle ohne große Diskussion erneuert werden.
Ein weiterer Grund zur Beschäftigung mit der Thematik ist der von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz ausgerufenene „Tag des offenen Denkmals“ im September diesen Jahres. Auf ihm wird auch das Blumläger Feld noch einmal vorgestellt.
Das ausgerufene Motto des Tages lautet:
„Jenseits des Guten und Schönen. Unbequeme Denkmale.“
Dieses Motto trifft ebenfalls den Kern der anstehenden Problematik, wobei das angesprochene Gute und Schöne sehr unterschiedlich interpretiert werden kann.
Für viele Celler Bürger nämlich ist die Siedlung mit ihren Bewohnern unbequem und jenseits des Guten und Schönen.
Mit der äußeren Gestalt der langen Blocks in minimalistischer streng kubischer Form, ohne das den Niedersachsen vertraute steile Ziegeldach, konnte und kann man sich offenbar schwer anfreunden.
Die Fassade der Häuser wird als langweilig bezeichnet, und jenseits des Schönen gesehen, doch ist hier nicht die oft monotone Reihung gleich großer Fenster zu sehen, wie sie bei vielen Bauten der sechziger Jahre zu finden ist, sondern durch unterschiedliche Fensterbreiten, Fensterhöhen und Fenstergrößen, sowie durch ein Auf und Ab der Reihung und durch die zurückspringenden Treppenhäuser entsteht ein lebendiger Rhythmus auf den Fassaden.
Die typischen Haesler – Fenster und ihre Gruppierung geben den Bauten ein unverwechselbares Gesicht.
Ein Satz des Kölner Kirchen– und Städtebauers Gottfried Böhm trifft die Intentionen Haeslers:
„Ein Gebäude ist für den Menschen Raum und Rahmen seiner Würde -
und dessen Äußeres sollte seinen Inhalt und seine Funktionen reflektieren.“
Aber es sind nicht nur diese ästhetischen Außenansichten der Häuser, die das Besondere der Siedlung ausmachen, es gibt viele Elemente in architektonischer, soziokultureller und städtebaulicher Hinsicht, die die Siedlung weit über die Grenzen Celles hinaus berühmt gemacht haben.
So hat Haesler als Erster aus Gründen der Materialersparnis den Stahlskelettbau im Massenwohnungsbau eingeführt.
Ähnlich dem Holzfachwerk gibt ein Gerüst aus verschraubten Stahlschienen den Bauten Halt und Stabilität.
Mit standardisierten Wohnungsgrundrissen und industriellen Vorfertigungen erreichte er eine Baukostenminimierung, die die Mietpreise für einkommensschwache Familien erschwinglich werden ließ.
Die Wohnungen waren nach ihrer Fertigstellung 1932 am billigsten in der Weimarer Republik. Die glücklichen Erstbewohner sandten Dankadressen an die Stadt Celle.
Mit einem strengen Nord – Süd ausgerichteten Zeilenbau und einer sehr einfachen flurlosen Grundrisslösung erreichte Haesler, daß alle Räume im Tagesablauf Licht, Luft und Sonne reichlich aufnehmen können: Morgens das Schlafzimmer und die Küche, abends der Wohnraum und eine Lesenische.
Zwar fehlen in den zweigeschossigen Häusern die Balkone, aber jede Wohnung hat dafür einen Garten hinter dem Haus.
Die Lebenssituation der Bewohner wird erheblich erleichtert, weil alle Wohnungen zentral beheizt werden und eine Toilette haben. In den großen Mietskasernen der Städte im 19. Jahrhundert war das nicht üblich.
Ein Wasch- und Badehaus mit einem Wäschetrockenraum stand jedem Bewohner zur Verfügung. Es war mit den modernsten Geräten ausgestattet.
Wenn die zwischenmenschliche Kommunikation sprachlicher Art bei den waschenden Nachbarsfrauen auszuarten drohte, griff ein männlicher Bade – und Waschmeister schlichtend ein, so wurde mir berichtet.
Abweichend vom strengen Nord – Süd – Zeilenbau der Siedlung ist eine Wohnzeile Ost – West ausgerichtet.
Dieser sogenannte Lungenflügel ermöglicht mit seinen nach Süden vorgelagerten Terrassen und Balkonen die volle Besonnung von Kranken, die viel heilsame Luft benötigen. Tbc – Kranke gab es nach dem ersten Weltkrieg zu Hauf.
Mit dieser im christlichen Sinn wahrlich barmherzigen Geste auf dem Felde sozialer Baukultur hat Haesler sich in die Architekturgeschichte eingeschrieben.
Ich wünsche mir und den jetzigen, langjährigen Bewohnern der noch originalen Siedlungszeilen, dass eine sicherlich notwendige Sanierung der Bauten die dann zu erwartenden Mietpreise nicht so in die Höhe treibt, dass die gern in ihren Wohnungen bleiben wollenden Mieter noch eine Chance bekommen. Bei einem Abriss würden sie ihre lieb gewonnene Heimat verlieren.
Fast ausschließlich wird von den verantwortlich Handelnden der WBG der wirtschaftliche Aspekt bei Sanierung und Abriß betont und der zwänge leider nun einmal „zu unangenehmen Maßnahmen.“
Es sollten aber meines Erachtens Wege gefunden werden, die auch humane, christliche Werte mehr in die Wagschale werfen.
Die heutige Wohnungsbaugesellschaft WBG hieß bei ihrer Gründung in den zwanziger Jahren WFG – das heißt Wohnungsfürsorgegesellschaft. Der Name war Programm. Daran sollte man sich erinnern.
Aus dem Evangelium des Johannes zitiere ich zum Ende meiner Ausführungen aus einer Abschiedsrede Jesu (Kap.14 Vers 2):
„In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen,
wenn´s nicht so wäre, so wollt ich zu euch sagen:
Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten.“
Glaube, Liebe und Hoffnung leuchten aus diesen Worten.